Ein Beitrag von Günther Grunert und Paul Steinhardt
Um es gleich vorauszuschicken: Der Angriff Russlands auf die Ukraine ist eine kriminelle, durch nichts zu entschuldigende Aggression und ein Bruch des Völkerrechts. So weit dürfte größtenteils Einigkeit bestehen.
Bei aller berechtigten Empörung ist es aber wenig hilfreich, auf ökonomischer Ebene Zusammenhänge herzustellen, die schlicht nicht existieren, und – noch schlimmer – daraus Forderungen abzuleiten, die zwar die eigene Bevölkerung enorm schädigen, aber die Finanzierung des russischen Angreifers nicht unterbinden. Beides geschieht aber in der gegenwärtigen öffentlichen Diskussion.
So behauptet etwa die Zeitung Die Welt: „Mit unseren Erdgaskäufen finanzieren wir Putins Krieg. Doch ausgerechnet der grüne Wirtschaftsminister sagt, wir können auf russisches Gas nicht verzichten.“ Wir sollten – so die „Welt“ – mutiger sein und ein Embargo auf russisches Erdgas verhängen.
Am Rande des EU-Gipfels am 24. und 25. März in Brüssel wurde ähnlich argumentiert: So forderten mehrere Regierungschefs, die Sanktionen gegen Russland auf Energie-Importe auszudehnen. Finnlands Premierministerin Sanna Marin lieferte die Begründung: „Solange wir Energie aus Russland kaufen, finanzieren wir den Krieg.“
Wie währungssouveräne Staaten ihre Ausgaben bestreiten
Die Logik, die hinter solchen Äußerungen steckt, ist offenbar die folgende: Russische Unternehmen wie Gazprom verdienen Geld mit dem Verkauf von Gas. Dies ermöglicht es dem russischen Staat, Lohn- und Unternehmenssteuern zu erheben. Mit den gezahlten Steuereinnahmen aber wird der russische Staat befähigt, Ausgaben für Soldaten, Verpflegung und vor allem Waffen zu tätigen. Ergo: Ohne unser Geld kann Russland solche Ausgaben nicht mehr vornehmen und muss über kurz oder lang seinen Krieg gegen die Ukraine beenden.
Bei dieser Argumentation wird übersehen, dass Russland ein Land mit einer souveränen Währung ist. Das bedeutet, dass dem russische Staat (mit der russischen Zentralbank als Schöpferin der Währung) niemals „das Geld ausgehen“ kann. Er kann alles für Rubel kaufen, was es für Rubel zu kaufen gibt, ohne von jemand anderem Rubel zu benötigen. Wie andere währungssouveräne Staaten auch zahlt der russische Staat seine Rechnungen ganz einfach mit einer Reihe simpler bilanzieller Operationen: Will Russland beispielsweise von einem seiner rund 1.300 Rüstungsbetriebe Waffen kaufen, dann nimmt die russische Zentralbank eine entsprechende Gutschrift auf das Zentralbankkonto der Geschäftsbank des Rüstungsunternehmens vor. Die Geschäftsbank schreibt dann einen Betrag gleicher Höhe auf dem Girokonto des Rüstungsbetriebes gut. Alle Staatsausgaben erfolgen letztlich auf diese Weise – durch Gutschriften auf Bankkonten. Die monetären Operationen, die damit einhergehen können (wie z. B. die Emission von Anleihen), ändern nichts an der Fähigkeit eines währungssouveränen Staates, auf diese Art Ausgaben vorzunehmen (dazu ausführlicher hier).
Ein Blick in die Praxis
Aber das kann doch nicht sein, mögen jetzt manche denken. Ein Staat schafft Geld „aus dem Nichts“, einfach so? Doch, es kann sein. Vielleicht lohnt es sich, hier einmal auf einen Praktiker zu hören, nämlich Ben Bernanke, den früheren Präsidenten der US-Zentralbank „Federal Reserve“, der als langjähriger Zentralbankchef eigentlich wissen sollte, wovon er redet. Gefragt, woher die Federal Reserve (kurz: Fed) all das Geld für das „Quantitative Easing“ – also den Ankauf von Wertpapieren in großem Stil – nehme und ob dies Steuergeld sei, antwortete Bernanke in einer US-amerikanischen CBS-TV-Sendung:
„Es ist kein Steuergeld. Die Banken haben Konten bei der Fed, in ähnlicher Weise, wie Sie ein Konto bei einer Geschäftsbank haben. So benutzen wir bei einer Ausleihung an eine Bank einfach den Computer, um damit den Kontostand der Bank bei der Fed zu erhöhen.“
Auch vor dem Kongress sollte Bernanke erklären, wie die Fed an das Geld für den Kauf von Vermögenswerten komme. Seine Antwort: „Wir erzeugen Reserven im Bankensystem (= Guthaben der Geschäftsbanken bei der Zentralbank; Anm. der Verf.), die nur bei der Fed gehalten werden […].“ Auf die Rückfrage, ob das Geld für den Kauf dieser Vermögenswerte nicht trotzdem aus Steuergeldern komme, antwortete Bernanke klipp und klar: „Nein, von da kommt es nicht“ (alle Zitate übersetzt nach L.R. Wray, Modern Money Theory, Basingstoke/New York 2015, S. 205).
Was sich an den Zitaten gut erkennen lässt, ist, wie die US-amerikanische Zentralbank Fed Ausgaben tätigt, nämlich einfach via „Tasteneingaben“, mit denen sie die Zentralbankkonten der Banken bei der Fed entsprechend aufstockt. Dass es hierfür keine (technischen) Obergrenzen gibt, dürfte unmittelbar einleuchten. Und was für die USA gilt, trifft ebenso für Russland zu, denn beide sind währungssouveräne Länder.
Wie abhängig ist Russland?
Russland hat also bei der Finanzierung russischer Waffen kein Problem. Ein Problem könnte nur dann entstehen, wenn Russland Waffen aus dem Ausland bezieht, für deren Bezahlung Rubel nicht akzeptiert werden.
Aber ist das so? Nach Daten des SIPRI, des Stockholmer internationalen Friedensforschungsinstituts, war Russland im Zeitraum 2017 bis 2021 nach den USA der zweitgrößte Waffenexporteur der Welt (mit rund 19 Prozent der globalen Waffenexporte), taucht aber unter den 50 größten Importeuren von Waffen nicht auf (siehe hier). Daraus lässt sich schließen, dass Russland bei der Versorgung mit Kriegsgerät als relativ autark einzuschätzen ist. Oder anders gesagt: Russland benötigt unser Geld nicht, um seinen Krieg führen zu können, und deshalb würde auch ein Lieferstopp für russisches Gas wenig nützen.
Braucht Putin „unsere Rubel“ zur Kriegsführung?
Es existiert noch eine zweite Variante, die erklären soll, warum Russland seinen Krieg ohne „unsere Finanzierung“ im Prinzip gar nicht führen könnte. Dies zeigte sich bei den teilweise haarsträubenden Kommentaren zu Wladimir Putins Anordnung, dass die EU-Staaten und die USA ihre Gasrechnungen künftig nur noch in Rubel zahlen dürften. Den Vogel schoss dabei Anja Kohl ab, „Börsenexpertin“ im ARD, die in der Tagesschau, dem ARD-Nachrichten-Flaggschiff, am 23.03.2022 verkündete:
„Ganz konkret könnte die Maßnahme die angeschlagene russische Wirtschaft und den Rubel stützen. Denn mit Rubel aus dem Westen kann Putin den Lohn für seine Soldaten bezahlen, Geldautomaten, an denen Abhebungen begrenzt wurden, wieder füllen und die hohe Inflation im Land bekämpfen.“
Wir staunen: Putin, der angeblich allmächtige Diktator, hat in Wahrheit nichts. Noch nicht einmal Rubel. Deshalb versucht er jetzt, an unsere Rubel, also die „Rubel aus dem Westen“, heranzukommen, um seine Soldaten bezahlen und seine Geldautomaten wieder auffüllen zu können.
Da stellt sich die Frage, woher „unsere Rubel“ eigentlich kommen. Selbst Anja Kohl wird (hoffentlich) nicht davon ausgehen, dass „wir aus dem Westen“ diese Rubel im Do-it-yourself-Verfahren selbst drucken können, um sie anschließend zur Bezahlung der Gaslieferungen an Putin zu schicken, der dann damit seine Geldautomaten befüllt. Die Währung eines Landes in der Form von Zentralbankgeld (also das umlaufende Bargeld sowie die Guthaben der Banken bei der Zentralbank) darf bekanntlich nur von der Zentralbank dieses Landes geschaffen werden – im Fall des Rubels also allein von der russischen Zentralbank und von niemandem sonst. Aus was für einem Grund aber sollte die russische Zentralbank zwar dem Westen – auf welchem Wege auch immer – diese Rubel zur Verfügung stellen, der eigenen Regierung aber nicht?
Der Grund für Putins Rubel-Entscheidung beim Gas ist natürlich ein ganz anderer. Mit den Sanktionen gegen die russische Zentralbank hat diese keinen Zugriff mehr auf einen großen Teil ihrer Währungsreserven. Unter Währungsreserven sind die in fremder Währung denominierten Geldvermögen zu verstehen, die von einer Zentralbank in anderen Währungsräumen gehalten werden.
Dieses „Einfrieren“ ihrer im Westen befindlichen Währungsreserven beeinträchtigt massiv die Fähigkeit der russischen Zentralbank, am Devisenmarkt zu intervenieren, um den Rubel vor einer Abwertung zu schützen. Normalerweise kann eine Zentralbank, wenn „ihre“ Währung unter Druck gerät, mit dem Kauf der eigenen Währung und dem Verkauf von US-Dollar oder Euro dagegenhalten. Mit einem weitgehend geblockten Zugang zu den Währungsreserven ist dies aber nur noch sehr eingeschränkt möglich. Das heißt, Devisenmarktinterventionen der russischen Zentralbank zur Stützung des Rubel können nur noch in einem eng begrenzten Rahmen stattfinden. So ist es auch kein Wunder, dass der Kurs des Rubel gegenüber dem US-Dollar sofort um etwa 30 Prozent fiel, als Ende Februar die Restriktionen über Nacht in Kraft traten.
Das neue, von Putin unterzeichnete Dekret sieht nun vor, dass Gaskunden aus dem Ausland zwei Konten bei der russischen Gazprombank eröffnen müssen, um weiter russisches Gas zu erhalten – ein Rubelkonto und ein Fremdwährungskonto. Die Bezahlung des Gases erfolgt durch eine Überweisung auf das Fremdwährungskonto, wobei weiterhin in Euro oder Dollar eingezahlt werden kann. Die Bank verkauft dann die jeweilige Währung an der Moskauer Börse und schreibt die erhaltenen Rubel auf dem Rubelkonto gut. Von diesem wird anschließend der offene Betrag an Gazprom in Rubel überwiesen. Ziel soll offenbar sein, durch hohe Nachfrage den Kurs der russischen Landeswährung, die wegen der westlichen Sanktionen unter Druck geraten ist, zu stärken.
Welche Folgen hätte ein Energieembargo?
Es bleibt anschließend die Frage, ob die deutsche Wirtschaft einen Importstopp für russische Energie – wenn er auch nicht den Ukraine-Krieg beenden hilft – zumindest gut verkraften würde, wie die Zeit offenbar meint. Das ist eine gewagte These. Zweifellos wird Russland durch die Wirtschaftssanktionen des Westens geschädigt. Es besteht aber die große Gefahr, dass die deutsche Wirtschaft in eine schwere Krise stürzen könnte, wenn Russland tatsächlich mit einem Energieembargo belegt würde. So befürchtet etwa die Siegener Bau- und Energieexpertin L. Messari-Becker, Beraterin der Bundesregierung, im Fall eines Stopps der russischen Gaslieferungen verheerende Folgen: „Wenn Grundstoff-Industrien zum Erliegen kämen, würde ein Dominoeffekt entstehen, der nicht mehr aufzuhalten und nur schwer reparabel wäre“ (hier). So hänge etwa die Bauwirtschaft stark an gasintensiven Branchen wie der Chemie-, Stahl- und Zementindustrie. Siemens-Energy-Chef Christian Bruch warnt gegenüber dem Handelsblatt zu Recht, dass bei einem kurzfristigen Boykott die negativen Effekte für Deutschland größer seien als diejenigen für Russland. Denn für einige Branchen sei die Gasversorgung existenziell: „Nehmen Sie nur die Glasindustrie. Wenn die Anlagen einmal kalt fallen, sind sie hinüber.“
Zwar ist in Deutschland der Anteil des Gases, der aus Russland kommt, nach den neuesten Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums von bislang 55 Prozent auf 40 Prozent gesunken. Und die USA wollen in den nächsten Jahren angeblich so viel Gas liefern, dass in der EU ein Drittel der Lieferungen aus Russland ersetzt werden könne. Doch erscheint eine kurzfristige Substitution russischen Gases durch verflüssigtes Gas (LNG) nicht nur aus ökologischer Sicht äußerst bedenklich, sondern aufgrund der begrenzten Transportkapazitäten illusorisch. So haben die USA derzeit nicht genügend Kapazitäten, um den LNG-Export spürbar zu erhöhen (einmal ganz abgesehen davon, dass das verflüssigte Erdgas aus den USA gegenwärtig etwa doppelt so teuer ist wie das russische Gas). Sie müssen im Gegenteil Gaskäufer aus Asien bitten, ihre LNG-Tanker nach Europa umzuleiten. Keine Hilfe ist zudem aus Europa zu erwarten: Die Niederlande können nicht einspringen, weil dort bereits massive Schäden durch das Leerwerden der Gasfelder entstanden sind. Und Norwegen ist bereits am Limit und kann bestenfalls noch kleine Mengen zusätzlich liefern.
Auch der Beitrag, den Afrika zum Decken des deutschen Erdgas-Bedarfs zu leisten vermag, sofern die russischen Lieferungen ausfallen sollten, wird oft maßlos überschätzt. Allenfalls 10 bis 20 Prozent der russischen Einfuhren kann Afrika nach Einschätzung von Stefan Liebing, dem Präsidenten des Afrikavereins der deutschen Wirtschaft, in den kommenden Jahren ersetzen.
Es steht also mehr auf dem Spiel als ein bisschen „Frieren für die Freiheit“, wie der frühere Bundespräsident Joachim Gauck meint, der sich für einen Stopp russischer Energie-Importe ausgesprochen hat. Eigentlich sollten uns doch die Erfahrungen mit der Corona-Pandemie gezeigt haben, welche fatalen Wirkungen anhaltende Angebotsstörungen von Energieträgern und Rohstoffen haben. Es wäre deshalb unverantwortlich, im Konflikt mit Russland Öl- und vor allem Gaslieferungen zu boykottieren: Denn den Krieg würde dies nicht beenden, wohl aber die Gefahr einer schweren Wirtschaftskrise mit massiven und dauerhaften Folgen heraufbeschwören.
Für diejenigen, die sich für mehr Einzelheiten und/oder zusätzliche Informationen interessieren, hier einige weiterführende Beiträge, die im Online-Magazin Makroskop erschienen sind:
Währungsreserven als Kriegswaffe?
Hurra! Russland steht vor der Staatspleite
Wie Staaten ihre Ausgaben bestreiten